- Die derzeit verfügbaren präimplantativen genetischen Tests (PGT) erfassen makroskopische chromosomale Anomalien sowie bestimmte bekannte Erbkrankheiten innerhalb spezifischer genetischer Familien. Dennoch kommt es bei etwa 50 % der euploiden Embryonen nicht zu einer erfolgreichen Implantation, und rund 10 % enden trotz Euploidie in einer Fehlgeburt
- Die Integration der klinischen vollständigen Genomsequenzierung (Whole Genome Sequencing, WGS) in die PGT gilt als vielversprechender Ansatz, um die bestehenden Einschränkungen aktueller Methoden zu überwinden. Sie könnte es ermöglichen, das gesamte Exom des Embryos zu analysieren und so zusätzliche genetische Risikofaktoren zu identifizieren
- Die vollständige Genomsequenzierung (WGS) ist eine Technologie, mit der sämtliche Basenpaare der DNA eines Organismus – also das gesamte Genom – gelesen werden können. Die rund 3,2 Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms liefern wertvolle Informationen zur Identifikation genetischer Fehler, Variationen oder Mutationen, die potenziell mit Erkrankungen, erblichen Störungen oder letalen Entwicklungsanomalien im embryonalen Stadium assoziiert sind – insbesondere im Kontext der präimplantativen Diagnostik
BARCELONA, 24. APRIL 2025
Präimplantationsdiagnostische Tests (PGT) werden eingesetzt, um genetische Anomalien in Embryonen vor der Implantation im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation (IVF) zu identifizieren. Bisher gilt die Biopsie des Trophektoderms als Standardmethode – ein sicheres, aber invasives Verfahren, bei dem einige Zellen des Embryos im Blastozystenstadium entnommen und genetisch analysiert werden. In diesem Zusammenhang zielt die auf dem 11. Internationalen IVIRMA Kongress in Barcelona vorgestellte Studie “WGS of human embryos: the next frontier in PGT” darauf ab, nicht nur die Erfolgsraten von IVF-Behandlungen zu erhöhen, sondern auch das Verständnis genetischer Erkrankungen bereits in den frühesten Entwicklungsstadien zu vertiefen.
Wie Dr. Antonio Capalbo, Wissenschaftlicher Direktor von Juno, Forschungsleiter für Genomik bei der IVIRMA Global Research Alliance und Koordinator der Studie, erläutert:
“Trotz aller bisherigen Fortschritte kommt es bei etwa 50 % der genetisch als normal (euploid) eingestuften Embryonen nicht zu einer erfolgreichen Implantation, und bei weiteren 10 % tritt eine Fehlgeburt ein. Es besteht eine erhebliche Lücke in unserer Fähigkeit, den Erfolg der Implantation und die embryonale Entwicklung zuverlässig vorherzusagen – genau deshalb ist die Erforschung alternativer diagnostischer Ansätze von so großer Bedeutun g”.
Möglicherweise lassen sich diese Entwicklungsstörungen auf genetische Mutationen in letalen Genen zurückführen – insbesondere auf de-novo-Mutationen in Keimzellen, die mit derzeit verfügbaren Technologien nicht zuverlässig erkannt werden können. Es wird vermutet, dass ein Teil des Entwicklungsversagens nach dem Transfer euploider Embryonen auf pathogene Varianten in letalen Genen zurückgeht, die bislang von konventionellen PGT-Methoden nicht erfasst werden.
Diese Studie legt nahe, dass die Integration der vollständigen Genomsequenzierung (WGS) in den klinischen PGT-Prozess eine mögliche Lösung darstellen könnte. WGS ermöglicht die Analyse des gesamten embryonalen Genoms – einschließlich aller rund 20.000 Gene – und damit nicht nur die Identifikation größerer chromosomaler Anomalien, sondern auch subtilerer genetischer Veränderungen, darunter monogene Erkrankungen, strukturelle Ungleichgewichte und epigenetische Veränderungen, die die embryonale Entwicklung beeinträchtigen oder schwere frühkindliche Erkrankungen verursachen könnten.
Was würde ein universeller PGT-Ansatz in der klinischen Praxis bedeuten?
Ein universeller PGT-Rahmen, der auf WGS basiert, würde eine deutlich umfassendere genetische Bewertung des Embryos im Hinblick auf erbliche und erworbene Erkrankungen ermöglichen. Zudem könnte er zur Entdeckung neuer prädiktiver Biomarker für das reproduktive Potenzial beitragen und so das Verständnis der menschlichen Entwicklung und genetischer Krankheiten deutlich vertiefen. „In der klinischen Praxis würde dies bedeuten, dass allen Patient*innen – unabhängig von genetischer Vorgeschichte oder familiärer Anamnese – ein vollständiger genetischer Test angeboten werden könnte. Dadurch ließen sich genetische Risiken bereits vor dem Embryotransfer zuverlässig identifizieren – mit potenziell erheblichem Einfluss auf die Reproduktionsmedizin“, ergänzt Dr. Capalbo.
Darüber hinaus würde dieser Ansatz eine detailliertere Analyse des reproduktiven Potenzials jedes einzelnen Embryos ermöglichen. Durch die gleichzeitige Erfassung des gesamten Spektrums genomischer Variationen – weit über Aneuploidien hinaus – hat WGS das Potenzial, die prädiktive Genauigkeit der PGT in Bezug auf Implantationserfolg und Lebendgeburt deutlich zu verbessern.
“Zweifellos stehen wir vor einem Paradigmenwechsel in der genetischen Bewertung von Embryonen. Die vollständige Genomsequenzierung ermöglicht es, genetische Risikofaktoren für die embryonale Entwicklung bereits vor dem Embryotransfer frühzeitig zu identifizieren sowie pathogene Varianten zu erkennen, die schwerwiegende genetische Erkrankungen bei der Nachkommenschaft verursachen können. Dies eröffnet neue Perspektiven für eine personalisierte Reproduktionsmedizin, verbessert die Erfolgsraten pro analysiertem Embryo und reduziert gleichzeitig Implantationsversagen und spontane Fehlgeburten. Gleichwohl sind vor der breiten klinischen Anwendung noch weitere präklinische und klinische Studien erforderlich, um den tatsächlichen klinischen Nutzen sorgfältig zu bewerten und Strategien zu entwickeln, wie diese neuen genomischen Informationen im Rahmen der Embryoanalyse bestmöglich genutzt werden können“, fasst Dr. Capalbo zusammen.
Insgesamt deutet alles darauf hin, dass die vollständige Genomsequenzierung die nächste große Revolution im Bereich der genetischen Diagnostik innerhalb der Reproduktionsmedizin darstellen wird – und damit den Weg für eine neue Ära der assistierten Reproduktion ebnet: präziser, sicherer und umfassender denn je.